Donnerstag, 5. November 2015





Seit ca. eineinhalb Monaten bin ich jetzt regelmäßig dabei, im „Transitlager A“ in Graz Webling bei der Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen aus hauptsächlich Syrien und Afghanistan zu helfen. 
 
Dabei habe ich miterlebt, wie sich die Notunterkunft ständig verändert hat. Von drei „kleinen“ Schlafsälen mit einer Kapazität von je ca. 130 „Betten“ und einer großen Halle für ca. 500 Menschen und einem kleinen Speisesaal und offenen, improvisierten Waschbecken im Freien hat sich das Lager (und ich hasse diesen Ausdruck, mein syrischer Freund sagt immer Heim oder Camp, aber alles trifft es einfach nicht) auf vier „kleine“, den großen und noch einen riesigeren Schlafsaal unten vergrößert, die Kapazität ist auf 2000 Menschen erhöht worden, wobei sich auch schon 2200 Menschen oder mehr darin befunden haben.
Die Feldküche ist vier Mal umgezogen. Von oben herausen nach unten herausen und jetzt ist sie drinnen, daneben jetzt ein großer Raum mit Tischen für die Essensausgabe.
Waren anfangs noch nur Leute vom Roten Kreuz, ein paar wenige Polizisten und viele Freiwillige vom Team Österreich sowie der Caritas tätig, so sind es jetzt weit mehr Freiwillige, vor allem viel mehr Dolmetscher (meine Hochachtung gilt ganz besonders ihnen, was sie leisten ist ein Wahnsinn!!) und sogar Security.
Die Leitstelle ist von einem Container in einen Raum gesiedelt. Zur Ankunft und Abfahrt mit Bussen sowie zum Einlaß in den Speisesaal wurden Absperrungen aufgestellt. Hielten wir anfangs noch die Nummer, deren Besitzer endlich weiterfahren dürfen, mit einem A4-Zettel händisch in die Luft, so gibt es jetzt fix montierte Tafeln, auf die sie gepickt werden.
Die Decken-, Essens- und sanitären Vorräte sind besser organisiert, selten geht noch etwas aus. Anfangs konnten wir nicht einmal die Feldbetten desinfizieren, es war kein Desinfektionsmittel mehr da. Mittlerweile weiß ich auch, wie das geht.. Und es gibt mehr Feldbetten, auch unten müssen die Menschen nicht mehr auf dünnen Isomatten am Teppichboden des ehemaligen Conrad liegen.
Auch die Wasserschäden in den Hallen wurden, glaube ich, behoben, die Heizung funktioniert.
Überall sind jetzt gut sichtbare Hinweistafeln in vielen Sprachen und Schriften montiert, sodass man alles gut findet. Trotzdem verirren sich noch einige auf dem Weg von Halle A zum Essen... 
 
Was sich nicht verändert hat ist der große Platz oben. Auf dem wird nach wie vor zu fast jeder Tages- und Nachtzeit Fußball gespielt.
Und es sind immer noch die selben Leute hier. Die Dolmetscher, die Einsatzleiter und Helfer vom Roten Kreuz, die beiden Küchenchefs. Alles ist bereits Routine. Viele Helfer kommen immer wieder und wissen schon, wie alles funktioniert, auch wenn es jedes Mal irgendwie anders ist.
Und was jeder mittlerweile weiß, ist, dass es keine Informationen gibt. Wann kommt ein Bus? Wieviele kommen? Wann dürfen die Menschen wieder weiter fahren? Keine genauen Antworten. Immer noch nicht. 
 
Seitdem die ungarische Grenze zu ist und die Menschen aus Spielfeld anstatt aus Nickelsdorf kommen habe ich das Gefühl, sie sind besser versorgt. Wasserflaschen aus Slowenien habe ich gesehen, blaue Beutel, die wahrscheinlich in Kroatien oder Slowenien ausgeteilt wurden. Ebenso blaue Regenkleidung. Die dann, wenn der Regen wieder aufgehört hat, einfach zurück gelassen wird. Wie so vieles andere auch.
Aber inzwischen kommen die Menschen erfroren an. Manche zittern so sehr, dass man ihnen kaum das Armband mit der Nummer umbinden kann. Dass sie kaum ihren Teller mit dem Dosenfisch halten können. Alle sind müde. Die Busse kommen meist nachts. Es sind viel mehr Familien. Anfangs waren kaum Kinder und Frauen hier. Jetzt sind es viele. Die Kleinen werden getragen, weil sie im Bus eingeschlafen sind. Eingewickelt in Decken. Viele in die dicken grauen Wolldecken von UNHCR. Manche Kinder weinen. Manche schlafen noch im Gehen weiter. Und trotzdem entkommt den meisten Menschen, die hier ankommen, ein Lächeln. Ein „hello“ oder „marhaba“.
Beim Essen höre ich so oft ein dankbares „thanks“, „shokran“, „tesekkürler“ und auch ganz viele „Dankeschön“. Und wie habe ich gestaunt, als einer zum Teeschank stürmt, mich angrinst und sagt: „Servas!“ Auch die Kinder wissen, was „Dankeschön“ und „Bitteschön“ heißt. Ich verstehe auch, wenn sie mich von unten angrinsen und um „shir“ oder „halib“ fragen. Aber wie stolz schauen sie aus, wenn sich diese kleinen Mädls das Wort „milk“ gemerkt haben!

Zum Reden mit den Menschen hier komme ich selten. Aber schon vor längerem hat mich ein fünfzehnjähriger Syrer mal angeredet. Auf Deutsch. Er war schon irgendwo in der Oststeiermark untergebracht und war nur bei uns für eine Nacht, weil er am nächsten Tag einen Gerichtstermin hatte. Er war zuvor ein paar Monate in Italien – jetzt kann er Italienisch – und damals seit ca. 7 Monaten in Österreich. Deutsch hat er sich selbst beigebracht, er war schon ganz gut. Mit der Schule hat er angefangen. Und als dann ein junges Mädl mit Kopftuch an uns vorbei ging, hat er mich leise gefragt: „Magst du das? Ich mag das nicht.“ Er war mit seinem Vater und seinem vierjährigem Bruder hier. Den hat er dann auch geholt und mir vorgestellt. Er hat ihm auch schon englisch beigebracht. So konnte sich der Kleine selbst vorstellen. Aber statt „I'm fine“ hat er strikt immer „I'm five“ gesagt.
Vergessen werde ich auch nie diesen vielleicht eineinhalb Jahre alten Buben, der ganz schüchtern im oberen Speisesaal im Eingang stand und wartete. Wartete darauf, dass jemand von uns ihn entdeckt und ihm etwas Süßes bringt. Er hatte eine weiße, gebügelte Hose an und ein glänzendes, hellblaues, orientalisches Hemd. Wie ein großer hat er damit ausgesehen. Und natürlich hat er bekommen, was wollte. Und das nicht nur einmal...
Oder der kleine Bub, der so lange leer ausgegangen ist, weil er zwischen den größeren Kindern nie einen der kaputten Dreiradler ergattert hat. Und dann endlich! Und dann hat er mir zu verstehen gegeben, ich solle ihn damit schieben. Und hat gezielt gelenkt. Zu Raum C. Ich solle die Türe aufmachen, hat er mir auch noch gedeutet. Und dann ist er zielgerichtet auf das Lager, wo sein Vater lag, zugefahren.
Und da war dann noch der vielleicht achtjährige, wahrscheinlich Afghane. Der konnte Fußballspielen! Mit einer von uns hat er gespielt, sie hat haushoch verloren. Ich und der junge Syrer haben ihnen zugeschaut.
Auch den Vater mit dem Kinnbart, der irgendwie einen vornehmen Eindruck machte, mit seiner vielleicht vierjährigen Tochter werde ich nicht vergessen. Die beiden waren sicher mindestens drei Wochen in Webling, unter jenen, die schon hier bei uns um Asyl angesucht haben. Deswegen bin ich ihnen öfter begegnet. Die beiden sind immer kurz vor Schluss noch Essen gekommen, haben sich dann in Ruhe hingesetzt und gemütlich gegessen. Das Mädl kam immer und bedankte sich mit einem sehr netten „Dankeschön“. Wo der Rest der Familie der beiden ist, darüber mag ich gar nicht nachdenken...

Das, was an der ganzen Arbeit am meisten belastet, ist auch nicht das Müll Wegräumen oder mit Mundschutz Betten desinfizieren oder völlig fertige Menschen zu sehen. Es ist das, was man dann von anderen Einheimischen hört. Vorurteile. Ängste, die völlig unbegründet sind, weil sie auf Unwissen basieren. Und wenn kein Interesse gezeigt wird, dieses Unwissen zu beseitigen, weil man offensichtlich so gern an seiner falschen Meinung festhält. 
 
Und niemand hätte auch nur irgendwelche Anstalten gemacht, von mir nichts zu nehmen. Wie man dann so in Bekannten- und sogar Verwandtenkreisen manch ein Gerücht erzählt bekommt „Die nehmen ja nicht mal Essen von Frauen“. Hm, gegrüßt, gelächelt, manchmal sogar ein bißchen geschäkert haben sie. Oder es einfach genommen. Oder ich war so im Stress, dass ich nicht jedem ins Gesicht schauen konnte. Schade eigentlich. 
Noch emotionaler ist das alles für mich geworden, seitdem ich die ganze Geschichte eines Syrers kenne. Angefangen vom Leben in Syrien vor der Revolution. Über ihn und seine Familie. Über den Bäcker am Eck irgendwo in Damaskus, der „Martina, das Brot von dort ist.. unbeschreibbar gut!“, über die Statue, die das einzige ist, das sein Vater in den vielen vielen Jahren seiner Ausgrabungsversuche gefunden hat. Die „in Syrien ist und immer in Syrien bleiben wird“. Mit diesem wehmütigen Unterton. Wenn man vom großen Haus erzählt bekommt, das irgendwo in einem Vorort von Damaskus steht. Oder auch nicht mehr dort steht. Und dann die ganze Geschichte, oder eigentlich nur immer wieder Teile davon, von der Flucht über Cairo und die Türkei nach Griechenland. Über die griechische Polizei, die ihn und seinen Bruder in einen Fluß gedrängt und seinen Bruder schwer verletzt hat. Über ein furchtbares Lager an der mazedonisch-serbischen Grenze. Über die Wanderungen durch Mazedonien und Serbien. Nachts, damit sie nicht von der Polizei entdeckt werden. Und dann im gleichen Atemzug die Erzählung, er konnte bei einem Bekannten in Novi Sad für zehn Tage wohnen. Und Novi Sad sei so schön und die Serben so nett. Und die Griechen so gebildet. Keine Spur von Hass. Nicht ein bißchen. Dann Ungarn, Traiskirchen. Und jetzt das Leben in Wien. Keine Aussicht auf Arbeit, zu zehnt in einer fast 90 m² Wohnung. Spärlich Deutschkurse, weil schlecht und teuer. Aber jedes Mal ein lachendes Gesicht. Kein Geld, aber trotzdem lädt er mich auf Kaffee ein.

Seine Geschichten haben meine Arbeit in Webling verändert. Jetzt sehe ich in den vielen Menschen noch mehr Gesichter, weil ich weiß, dass jeder von ihnen so eine Geschichte hat. Familie. Freunde. Die sie verloren haben. Wehmut, weil sie nicht zurück können. Ja, Wehmut ist oft zu hören bei meinem Freund. Kein Hass oder Rachegedanken. Aber Wehmut. Er will nach Hause. Aber er weiß, dass es keines mehr gibt. Und dass sein bester Freund nicht mehr lebt.

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